Tina, 7 Jahre alt, strahlt im Schein der ersten Kerze am Adventkranz. Heute ist endlich der erste Adventsonntag und sie darf die Kerze am Kranz anzünden. Mit ihr am Tisch sitzt die ganze Familie und von Minute zu Minute werden die Stimmen leiser. Die Augen richten sich auf die Flamme und der Blick jedes einzelnen wirkt im Schein der Kerze weich, aber doch zentriert. Tina kennt den genauen Ablauf.
Erst werden zwei Lieder gesungen und anschließend darf jemand einen Text lesen. Heuer wird sie ihr Lieblingsbilderbuch vom Christkind vorlesen, denn endlich kann sie auch lesen. Aufmerksam hört die Familie zu und die Eltern freuen sich, dass das Lesen schon so gut klappt. Nach der Geschichte spielt Tinas Bruder ein Stück auf dem Klavier vor und anschließend singen sie noch gemeinsam Lieder. Tina lacht, weil Papa wieder die Texte vergessen hat. Es herrscht eine gemütliche Atmosphäre und Tina und ihr älterer Bruder kuscheln sich an ihre Eltern. Die Kinder erzählen lustige Erlebnisse mit ihren Freunden und erinnern sich an früher, als sie noch klein waren. Eine halbe Stunde ist schnell um und jedem fällt es schwer sich zu erheben und sich fürs Bett fertig zu machen. Das Ausblasen der Kerze signalisiert das Ende der Feier und auch das nahende Ende des Tages. Vergnügt springt Tina ins Bad, denn sie weiß, der Advent ist noch ganz lange.
Eine gemeinsame Adventfeier ist nur eines unter zahlreichen Beispielen von Ritualen, die in einer Familie zelebriert werden. Neben Geburtstagsfeiern, Weihnachten, Hochzeiten und Taufen, die eher selten stattfinden, umgeben unser Familienleben auch zahlreiche rituelle Handlungen, die wöchentlich oder auch täglich stattfinden. Das tägliche gemeinsame Abendessen oder das Vorlesen und zu Bett bringen des Kindes, sind nur zwei von vielen Beispielen.
Das Leben in der modernen Zeit lässt uns zeitweise auf einige Rituale vergessen, vor allem dann, wenn wir uns der Kirche nicht mehr so zugehörig fühlen. Denn eines ist klar: Innerhalb der Kirche und dem Glauben gibt es sehr viele Riten, mit denen sich heute viele Menschen, oft aufgrund der Starre, mit der diese durchgeführt werden, wenig identifizieren können. Dabei sollten wir jedoch nicht vergessen, dass auch ein Ritual innerhalb der Familie häufig einen spirituellen Charakter hat.
Ich denke, viele unserer Rituale, die wir ausführen, entstehen aus einem Mix an Traditionen beziehungsweise Erfahrungen, die wir selbst erlebt und als positiv empfunden haben und eigenen Ideen. Diesen Entstehungsprozess des Rituals empfinde ich als sehr wichtig, da Rituale zwar einen Rahmen haben, aber nie ganz starr sind, sondern sich verändern und immer wieder an Bedürfnisse und Situationen angepasst werden.
Das bringt in deinen Familienritualen auch die persönliche Note zum Vorschein. Und das ist besonders wichtig, wenn du für deine Familie Rituale aufbaust und durchführst. Zwanghafte Abläufe in Ritualen mit denen du nicht übereinstimmst bringen nicht den gewünschten Effekt. Es fehlt die positive Emotion, die dem rituellen Handeln seine Wirkung verleiht.
Rituale werden in den unterschiedlichen Wissenschaften unterschiedlich definiert. Ich habe mich für eine Definition aus einer Publikation von Ursula Rudigier, „Rituale als Wegbegleiter“, entschieden, in der sie schreibt:
„Handlungen, die nach Regeln ablaufen und sich einer Symbolik bedienen beziehungsweise einen hohen Symbolgehalt besitzen, werden als Ritual bezeichnet. Das Ritual ist Teil der Kulturgeschichte beziehungsweise Kultur und durch diese in ihrer Ausformung und Entwicklung bedingt. Gestik und Sprache spielen eine wichtige aber nicht die einzige Rolle. Ebenso tut es der zwischenmenschliche Aspekt.“1
Diese Definition beinhaltet für mich alle wichtigen Punkte, die Familienrituale so wertvoll machen: Regeln, Symbole, Kultur, Sprache und der zwischenmenschliche Aspekt.
Warum sind Rituale für dich und deine Familie wertvoll?
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Rituale fördern Zusammenhalt und Familienbewusstsein
Dies wird im Beispiel von der Adventfeier ganz deutlich sichtbar. Tina erkennt sich selbst als wichtigen Teil der Familie und ebenso ihr Bruder. Das Erlebbar werden der eigenen Rolle innerhalb der Familie schafft Zugehörigkeitsgefühl und Familienbewusstsein: „Ich bin ein wichtiger Teil und werde als dieser angenommen. Ich gehöre dazu!“
Gleichzeitig drückt sich die Familie mit Hilfe des Rituals aus und bringt ihre Besonderheit zum Ausdruck. Sie präsentiert sich und die für sie wichtigen Werte.2
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Rituale geben Situationen einen Rahmen und bieten Ordnung, Sicherheit und Orientierung
Auch das wird in unserem Beispiel deutlich. Tina weiß den genauen Ablauf der Feier, sie ist sich bewusst, wann die Feier beginnt und wann sie endet. Dies ist für sie der feste Rahmen und bietet ihr innerhalb des Rituals die notwendige Orientierung. Gleichzeitig eröffnet sich trotz fixer Vorgabe ein Handlungsspielraum für ihr Vorhaben, das Buch vorzulesen. Sie kann sich innerhalb des Rahmens entfalten, was das Ritual wiederum zu etwas Besonderem macht. Und in ihrem letzten Gedanken an die nächste Adventfeier kommt ein weiteres wichtiges Merkmal von Ritualen zu tragen, das für das Sicherheitsgefühl deines Kindes bedeutsam ist: Die Wiederholung! Kinder lieben und brauchen Wiederholungen, denn Wiederholungen machen sie sicher im Umgang mit sich und der Welt.
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Rituale definieren und erleichtern Übergänge
Jeder Tag hat verschiedene Phasen, die mehr oder weniger nahtlos ineinander übergehen. Bei Babys und Kleinkindern aber auch bei Schulkindern sind diese Übergänge vom Spielen zum Essen und Schlafen oft sehr problematisch und erfordern die gesamte Aufmerksamkeit und Konzentration des Erwachsenen, um die heikle Situation zu einem friedvollen Ende zu bringen. Eingeführte ritualisierte Handlungen, wie zum Beispiel Vorlesen oder Singen vor dem Einschlafen gehen, oder Hände waschen vor dem Essen geben dem Kind ein Signal was jetzt kommt und bieten Orientierung und Sicherheit.
Aber auch größere Übergänge, wie beim Schuleintritt oder beim Übergang vom Teenager- ins Erwachsenenalter sind Rituale hilfreich und begleiten und unterstützen das Kind oder den Jugendlichen in einen neuen Lebensabschnitt. Zum Beispiel die Schultüte beim Schuleintritt, oder das Fest der Firmung oder Konfirmation. Diese Rituale setzen Zeichen dafür, dass ein Lebensabschnitt zu Ende geht und etwas Neues beginnt. Die Ungewissheit, die in solchen Übergängen liegen kann, bekommt durch das Ritual etwas Greifbares zum Festhalten, einen Anker. Dieser bietet sowohl dem Kind als auch seinen Eltern, denen Übergänge ähnlich schwerfallen können, Halt.
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Rituale vereinfachen den Alltag
Sind Rituale erst mal in der Familie gefestigt, dann erleichtern sie den Familienalltag. Durch die eingeführten Ordnungsstrukturen in der Familie werden auch die Eltern entlastet. Jeder ist sich seiner Rolle bewusst und kann dementsprechend agieren. Was heißt das? Rituelles Handeln ersetzt einen Teil von Entscheidungen.3Das Kind und auch der Erwachsene werden somit im Alltag nicht stets damit überfordert, wie in dieser und jener Situation zu reagieren ist. Das erleichtert das Bestreiten des täglichen Familienlebens erheblich.
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Rituale haben eine emotionale Bedeutung
Sie unterstützen Kinder und Erwachsene, ihre Emotionen zu kontrollieren und zu ordnen. Auch tiefere Schichten in der Seele werden durch Rituale geordnet und wirken auf das Bewusstsein.4
Die Wiederkehr der Handlungen vermittelt dem Kind Geborgenheit und stabilisieret den emotionalen Zustand des Kindes.
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Rituale helfen in Krisensituationen
Wenn das Leben aus den Fugen geraten ist und scheinbar nichts mehr so ist, wie es vorher war, kann es passieren, dass bewährte Denk- und Verhaltensmuster nicht greifen. Mit Hilfe eines Rituals kann auf ein bekanntes und bewährtes Programm zurückgegriffen und so ein Weg aus der Krise gefunden werden.5Dies trifft für einen selbst zu, aber auch im Umgang mit den eigenen Kindern. Auch hier kannst du in der Krise mit Hilfe von Ritualen wirksam werden.
Ängste, die in Krisensituationen eine häufige Begleiterscheinung sind, können durch Rituale gemildert werden. Denn geregelte Handlungen geben in kritischen Situationen neue Orientierung und bringen den Menschen aus seiner Hilflosigkeit wieder ins Tun. Die wiedergewonnenen Handlungsmöglichkeiten reduzieren aufgebauten Stress.6Dies wirkt sich positiv auf den Gesamtzustand des Menschen aus.
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Rituale unterstützen das soziale Lernen
Da wir immer in Gemeinschaften leben, ist dies natürlich von großer Bedeutung. In der Familie, aber auch in den Institutionen, wie Kindergarten, Schule und Hort. Routinierte Abläufe wirken konfliktreduzierend und entlasten in Stress- und Krisensituationen.7 Für das Zusammenleben und Zusammenarbeiten in der Schule eine wichtige Grundvoraussetzung. Die Wiederholungen ritueller Handlungen entspannen und erzeugen Zufriedenheit und fördern die Gemeinschaft.8
Welche ritualisierten Handlungen unterstützen dich im Alltag mit deinem Schulkind?
Im Vordergrund steht für mich hierbei das Gefühl der Sicherheit, das diese Handlungen deinem Kind bieten können und die Erleichterung im Alltag für dich.
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Gemeinsame Zeit verbringen als seelische Unterstützung für dein Kind
Gemeinsam Zeit zu verbringen ist in unserem Leben mit den Kindern nicht immer einfach. Nicht nur unregelmäßige Arbeitszeiten, sondern auch der unterschiedliche familiäre Kontext in dem wir zusammenleben macht Familien heute zu schaffen. Die sogenannte „Quality time“, wie gemeinsame Mahlzeiten, Spieleabend, gemütlich beisammensitzen, Tee trinken und sich unterhalten ist in der schnelllebigen Zeit oft rar. In regelmäßigen Abständen Zeit für gemeinsame Aktivitäten innerhalb der Familie einzuplanen stärkt dein Kind und auch dich.
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Die Zeiteinteilung für die Hausübung
Mit dem Schuleintritt deines Kindes ändert sich der Ablauf am Nachmittag. Die gemeinsame Spielzeit verkürzt sich, um der Hausaufgabe Platz zu machen. Bekannte Rituale, wie gemeinsam essen oder gemeinsame Pause, bieten die sichere Grundlage für die neue Herausforderung. Dein Kind kann sich dadurch besser konzentrieren und das Üben fällt leichter. Auch Hausübung machen wird durch die Wiederholung zu einer ritualisierten Handlung. Gerade bei der Hausübung finden Kinder auch schnell ihren eigenen Ablauf. Das ist gut, denn dabei schaffen sie sich ihren persönlichen Sicherheitsrahmen für ihr Tun. Das macht es ihnen leichter, die Aufgaben anzugehen und fertig zu machen.
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Lernen für Lernfächer zu einem festgelegten Zeitpunkt während des Tages
Gerade der Übertritt von der Volksschule ins Gymnasium oder in die Neue Mittelschule ist für viele Kinder eine sehr stressige Zeit. Eine große Neuerung bildet anfangs das Lernen für die Stundenwiederholungen von Physik, Biologie, Vokabel für Englisch und so weiter. Manche Kinder können das alleine bewältigen, andere brauchen Unterstützung.
So könnte ein Ablauf gestaltet werden:
- Zeit festlegen: zum Beispiel nach dem Abendessen.
- Dein Kind liest sich selbständig durch, was geprüft wird.
- Du beantwortest Fragen, die beim Lernen auftauchen.
- Du fragst dein Kind ab oder lässt dir von deinem Kind erzählen, was es gerade im Unterricht macht.
- Einpacken der Schulsachen für den morgigen Tag.
- Danach könnt ihr auch noch gemütlich beisammensitzen und Dinge besprechen, die dein Kind oder auch dich bewegen.
Solche von dir durchdachten Sequenzen bieten eine Ordnung und geben deinem Kind Sicherheit. Gleichzeitig erhält die doch fast tägliche Aufgabe einen fixen Platz im Tagesablauf. Die wiederkehrende Handlung kann und wird auf Wunsch des Kindes später selbständig ausgeführt werden. Oder dein Kind wird das Ritual für sich anpassen und nach seinem Bedürfnis ausführen. Dazu gehört auch, dass es in der Pubertät das Ritual ausfallen lässt, weil es nicht mehr für notwendig erachtet wird.
Ich habe hier nur einige Beispiele angeführt. Denn jedes Ritual, das einen festen Platz in deinem Familienleben hat, trägt zum Wohlbefinden aller bei und unterstützt euch.
Rituale im Alltag müssen nicht immer lang sein. Oft sind es nur einzelne Handlungen, die die Bereitschaft für die nächste Aufgabe des Lebens signalisieren. Zum Beispiel Hände waschen vor dem Essen oder einen Kaffee machen bevor du zu arbeiten beginnst.
Es sind symbolische Handlungen, die bereit machen und uns durchs Leben tragen!
Wie ist es bei dir und deiner Familie?
Welche Rituale begleiten euch und tragen euch durch das Leben?
So kurz vor Weihnachten ist eine gute Möglichkeit darüber zu reflektieren und dir bewusst zu machen, wie es um deine Rituale in der Familie steht.
- Mache dir bewusst, welche Rituale dir besonders wichtig sind!
- Welche Rituale haben dir besonders geholfen und dich gut unterstützt?
- Wie haben sich deine Rituale verändert?
- Welche Rituale haben sich für dich besonders gelohnt?
- Welche Rituale möchtest du wiederbeleben, obwohl sie schon in Vergessenheit geraten sind?
- Welche Traditionen sind zu starr geworden und brauchen eine Veränderung?
- Was wolltest du schon lange wieder einmal machen?
Hör auf deine innere Stimme und spüre nach, was sich für dich richtig anfühlt!
Ich würde mich freuen, mehr über deine Rituale zu erfahren. Schreib mir doch!
- Ursula Rudigier, Rituale als Wegbegleiter, Berlin 2014, 10
- Christoph Wulf, Familienrituale Ein Gerüst für das Leben, Spektrum der Wissenschaft Spezial Rituale, 2011, 22
- Ursula Rudigier, Rituale als Wegbegleiter, Berlin 2014, 37
- Ursula Rudigier, Rituale als Wegbegleiter, Berlin 2014, 24-25
- Ursula Rudigier, Rituale als Wegbegleiter, Berlin 2014, 24
- Ursula Rudigier, Rituale als Wegbegleiter, Berlin 2014, 24
- Ursula Rudigier, Rituale als Wegbegleiter, Berlin 2014, 35
- Ursula Rudigier, Rituale als Wegbegleiter, Berlin 2014, 35