Lernen gehört zu unserem Leben, wie Atmen und Schlafen. Vom Tag der Entstehung im Mutterleib bis zu unserem Tod lernen wir. Lernen ist kein künstlich herbeigeführter oder hergestellter Prozess, sondern ein Prozess, der fortlaufend passiert. Jeder Reiz, den wir bewusst oder auch unbewusst wahrnehmen gehört zum Lernprozess dazu. Unser Gehirn verarbeitet und ordnet ein, ob die Information bekannt ist und/oder fügt eine neue Verknüpfung hinzu.
Wir Erwachsenen reagieren auf alltägliche Reize meist wenig. Geräusche von Baumaschinen, Autos, Vögel werden ohne große Aufregung wahrgenommen, denn unser Gehirn erkennt es als bekannt und kann das Geräusch zuordnen und entsprechend der Situation reagieren. Wir werden dadurch nur kurz oder gar nicht von unserem jetzigen Vorhaben abgelenkt und können uns konzentriert unserer Arbeit widmen.
Ganz anders sieht das bei Kleinkindern aus. Wir alle kennen die langen Spaziergänge, bei denen jede noch so kleine Regung die Aufmerksamkeit des Kindes erweckt. Jeder Käfer, jeder Schmetterling, jede Blume und jedes Geräusch von Bagger, Traktor und Tieren nimmt das Kind wahr. Bekanntes wird einsortiert und die neuen Sinnesreize müssen nun verarbeitet und zugeordnet werden. Da wir nicht nur über einen Sinneskanal lernen, sondern über alle gleichzeitig ist es für das Kind wichtig mehr Informationen zu sammeln, als nur das gesehene Objekt. Ein Käfer wird also nicht nur beobachtet, sondern auch angefasst oder eingefangen. Wie zart und kitzlig sich Käferfüße auf der Haut anfühlen kann nur erfahren werden. Die sprachliche Beschreibung reicht nicht aus und kann die taktile Erfahrung nicht ersetzen. Auch der Geruch, den ein Käfer zu seinem Selbstschutz absondert kann schwer erklärt werden. Nicht zuletzt deshalb, da jedes Krabbeltier eine andere Duftnote verströmt. Die Auseinandersetzung mit dem Käfer bietet zahlreiche sinnliche Informationen, die im Gehirn abgespeichert und als Erfahrungen integriert werden.
„So wie ein Kleinkind mit offenen Augen und Ohren, stets durch seine innere Motivation angetrieben, immer in Bewegung und ganz im Moment. Das ist Lernen in seiner höchsten Form.“
Zunächst ein paar Informationen zu unseren Sinnen und deren Verarbeitungsprozessen.
Die drei Sinnesebenen
Unser Sinnessystem ist in drei Ebenen eingeteilt:
- Sinne, die uns über Reize außerhalb des Körpers informieren, die sogenannten Fernsinne.
Dazu gehören das Sehen, das Hören, der Geschmackssinn und der Geruchssinn und der Berührungssinn oder auch Tastsinn genannt.1
- Sinne, die über die Position und Bewegung des Körpers im Raum informieren, die Eigenwahrnehmung. Sie geben Auskunft wo man sich im Raum befindet und wie und wohin der Körper sich bewegt. 2
Ein wichtiger Teil davon ist der Gleichgewichtssinn. Aber auch der Stellungs- und Bewegungssinn, auch als Tiefensensibilität bekannt, gehört zu dieser Sinnesebene. - Sinne, die über das Körperinnere informieren.
Diese Ebene beinhaltet den viszeralen Sinn.3
Über diese 3 Sinnesebenen gelangen stets Informationen zu unserem Gehirn, die nun eingeordnet, abgespeichert, zugeordnet also verarbeitet werden müssen. Das ist ein sehr vielschichtiger und zugleich lebensnotwendiger Prozess. Denn die sensorischen Informationen, die auf uns einströmen fordern unser Nervensystem dazu auf, auf die bekannten und unbekannten Situationen zu reagieren. Diese Reaktion bewirkt, dass wir uns an die neue Herausforderung geistig und körperlich anpassen.4 Diese Anpassung ist ein wichtiger Teil des Lernprozesses, denn die Grundlagen für die Fähigkeit zu lernen beruht auf der Fähigkeit sensorische Informationen zu integrieren.5
Wir alle wissen, dass nun immer mehrere Sinnesinformationen gleichzeitig auf uns einströmen. Das gesamte System ist gefordert diese Informationen blitzschnell einzuordnen, miteinander in Verbindung zu bringen, zu reagieren und zu integrieren. Werden Sinnesreize und motorische Reize immer wieder wiederholt wird die Verbindung zwischen den Synapsen (Schaltstellen zwischen Nervenzellen) im Gehirn trainiert und gestärkt. Das heißt die Aktivierung der Synapsen erfordert weniger Energie als bei der „Erstaktivierung“. Irgendwann nach zahlreichen Wiederholungen ist es möglich, dass ich bestimmte Handlungen oder Aufgaben nicht mehr kontrolliert, sondern automatisch machen kann.
Das beste Beispiel ist dafür das Gehen lernen. Erst erfordert es beim Kleinkind die totale Aufmerksamkeit, jeder Schritt ist geplant, kontrolliert und für andere Dinge ist keine Kapazität vorhanden. Zurufe von Erwachsenen oder Blick zur anderen Seite bringen das Kind zu Fall. Ist das Gehen jedoch automatisiert so kann das Kind sich umdrehen, etwas tragen oder etwas genauer betrachten ohne dabei aus dem Gleichgewicht zu kommen.
Alles Lernen beruht auf der reibungslosen Reizverarbeitung! Aber was passiert, wenn diese fehlerhaft abläuft?
Reizverarbeitungsprobleme und ihre möglichen Folgen
Kinder mit Reizverarbeitungsproblemen haben meist neben Lernproblemen auch Schwierigkeiten mit entsprechendem Verhalten. Weil das Gehirn von Kindern mit sensorischen Verarbeitungsstörungen untypisch reagiert, verhält es sich auch untypisch.6 Wenn Kinder nicht so schlau, wie andere sind ist es in der Gesellschaft eher akzeptiert. Wenn Kinder durch ihr „unangepasstes“ Verhalten auffällig werden, dann kommen auf sie und ihre Eltern oft wahre Probleme zu. Kinder mit aggressivem Verhalten, mit überschießenden Kräften, „Zappelphillip“ aber auch „Träumsuseln“ haben es in der Schule, aber auch zu Hause nicht einfach. Allzu oft denken Mitschüler und Erwachsene, dass diese Kinder mit ihrem Verhalten provozieren wollen, sich einen Spaß daraus machen oder einfach nur faul seien. Kinder, die von sensorischen Integrationsproblematiken wirklich betroffen sind, verhalten sich nicht mit Absicht so, es gelingt ihnen nicht besser. Wenn sie jedoch über einen langen Zeitraum als „schlimme Kinder“ gesehen und auch so behandelt werden, dann kann es im Kind einen enormen Widerstand hervorrufen, der auch mit Absicht eingesetzt wird. Es bedarf von Eltern, Erziehern und auch Mitschülern viel Verständnis und Geduld, damit der Alltag gelingen kann.
Drei Beispiele, wie sich sensorische Integrationsprobleme anfühlen können
Ich habe diese Beispiele dem Buch „Bausteine der kindlichen Entwicklung“ von A. Jean Ayres entnommen.
Diese Vorschläge sollen Eltern und Erzieher helfen, sich ein Bild zu machen, wie es sich anfühlt, wenn in einem Sinnesbereich nicht genügend Informationen vorhanden sind.
Wahrnehmungsschwierigkeiten im taktilen Bereich
„Versuchen sie, beim Tischdecken ein Paar dicke Handschuhe zu tragen. Beobachten Sie sich selbst: Plötzlich müssen sie darüber nachdenken, wie sie das Besteck hochheben können, weil ihr reduzierter Tastsinn Ihnen nicht hilft, Ihre Hände zu bewegen.“7
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Visuelle Wahrnehmungsschwierigkeiten
„Stellen Sie sich vor, sie schauen sich alte Familienvideos an, die von einem unerfahrenen Kameramann gefilmt wurden. Wenn er die Kamera durch den Raum bewegte, war das Bild holprig und verwackelt. Sie müssen sich wirklich sehr konzentrieren, um die wichtigen Szenen zu verfolgen. So ähnlich fühlen sich viele Kinder mit visuellen Wahrnehmungsschwierigkeiten in der Schule. Es kann sein, dass sie sich unheimlich stark konzentrieren müssen, um ihren Blick auf die Tafel zu richten. Wenn man so hart arbeiten muss, um zielgerichtet zu schauen, ermüdet man rasch; und man übersieht wichtig Details, die notwendig wären, um den Unterricht vollständig zu verstehen.“8
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Auditive Wahrnehmungsprobleme
„Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem lauten Restaurant zum Abendessen, zusammen mit einer Gruppe von Mitarbeitern oder Freunden und feiern Geburtstag. Ihr Sitzplatz ist am Ende einer langen Tafel, und sie hören viele Hintergrundgeräusche (Gespräche an den anderen Tischen, das Klirren von Geschirr in der nahe gelegenen Küche). Jemand, der in der Mitte der Tafel sitzt, erzählt eine lustige Anekdote, aber Sie verstehen nur Bruchstücke davon. Plötzlich lacht die ganze Gruppe auf, weil das Ende so lustig war, und Sie haben es verpasst. Es ist unangenehm sich ausgeschlossen zu fühlen, wenn anscheinend alle anderen verstanden haben, worum es ging. Diese Erfahrung ist ähnlich dem, was Kinder mit auditiven Wahrnehmungsstörungen täglich in der Schule erleben. Auch wenn sie sich bemühen, der Lehrerin zuzuhören, verstehen sie wegen der Geräusche, die vom Spielplatz, dem Flirren der Beleuchtung, dem Verkehrslärm und dem Wispern der Klassenkameraden kommen, nicht alle Anweisungen. Diese Kinder müssen oft nach visuellen Hinweisen von Mitschülern schauen; aber man kann sich vorstellen, dass es unangenehm für sie ist, nicht genau zu verstehen, was sie tun sollen.“9
Was kann ich tun? Wie kann ich mein Kind unterstützen?
Zeigt dein Kind bereits im Vorschulalter auffallende sensorische und/oder motorische Schwierigkeiten, dann solltest du das von einer erfahrenen Ergotherapeutin abklären lassen und dich beraten lassen.
Die Angebote der Ergotherapie sind für Kinder, die Probleme mit der Wahrnehmungsverarbeitung und mit Grob- und Feinmotorik haben eine wirklich tolle Unterstützung. Manche Ergotherapeutinnen, die zusätzlich die Ausbildung zur Sensorischen Integrationstherapeutin nach Ayres haben, sind die Spezialisten auf diesem Gebiet. Es lohnt sich für dich diese Therapeuten aufzusuchen und dir Klarheit zu verschaffen. Es macht dich sicher im Umgang mit deinem Kind und diese Sicherheit wirkt sich positiv auf eure Beziehung aus.
Manche Schwierigkeiten fallen jedoch erst im Schulalter auf, Probleme beim Lesen und Schreiben, Schwierigkeiten beim Rechnen, Konzentrationsmangel vielleicht sogar Legasthenie oder Dyskalkulie.
Eine Methode, die im Schulalter von manchen dafür ausgebildeten Lerntrainern angewandt wird ist das Warnke-Verfahren.
Die drei Säulen, auf denen das Training aufgebaut wird
- Das Low-Level-Training wichtiger Grundfunktionen im Gehirn (wie der Zeitverarbeitung in Hören und Sehen u. v. m.) mit dem Brain-Boy 10
- Das visuelle Buchstabieren zum Anlegen eindeutiger Wortbilder im Gehirn mit unserem Computerprogramm Orthofix 11
- Das Lateral-Training zur Verbesserung der Vernetzung und Sprachverarbeitung im Gehirn 12
Diese Methode wird von den Kindern sehr gerne angenommen, da für die Übungen Geräte und Medien zum Einsatz kommen.
Ich selbst habe im Rahmen einer Fortbildung den Brain-Boy ausprobiert, die Testung durchgeführt und geübt. Es war für mich wirklich erstaunlich, wie eigene Schwächen in manchen Bereichen sichtbar wurden.
Auch das Lateral – Training habe ich erprobt und es war faszinierend zu spüren, wie der eigene Körper auf diese neuen Eindrücke reagiert.
Obwohl das Warnke – Verfahren zu Hause gemacht werden kann, empfehle ich dich von einem erfahrenen Lerntrainer beraten und betreuen zu lassen.
Zuletzt ist noch die Unterstützung durch das neurophysiologische Training möglich. Siehe dazu meinen Blogpost „Frühkindliche Reflexe – Lernen und Verhalten“
Vielleicht bietet sich auch eine Mischung aus mehreren Ansätzen an. Achte jedoch darauf, dass dein Kind nicht überfordert wird. Manchmal ist es sinnvoll über einen Zeitraum bei einer Variante zu bleiben und erst später noch etwas hinzuzunehmen.
Abschließend möchte ich betonen, dass es mir absolut nicht wichtig ist, dass alle Kinder immer alles perfekt beherrschen müssen. Es geht mir nicht darum, dass alle Kinder therapiert werden müssen, damit sie die Schule und ihr Leben meistern können. Aber es gibt so viele Kinder, die einfach als verhaltensauffällig, hyperaktiv oder als unbegabt bezeichnet werden. Es sind jene Kinder, die den Glauben an sich selbst schon aufgegeben haben, da sie sich dumm, anders und oftmals ausgegrenzt fühlen. Und diese Kinder brauchen Erwachsene, die sie lieben, die stark sind und die sich Unterstützung holen können, in der Form, wie es das Kind braucht.
Wenn du Erfahrung mit diesem Thema hast und/oder noch weitere Möglichkeiten kennst, die Eltern Unterstützung bieten, schreibe mir in den Kommentaren. Ich freue mich auf deine Rückmeldungen!
Alles Liebe
Christa